Von Bernhard Laß
Iserlohn-Roden. Ein Rausch für alle Sinne. Wie soll man über ein Konzert schreiben, das Sie nun nicht hören können und doch ein Rausch für alle Sinne war. Ein innerer Bilderbogen, ein vorbeiziehender Film, ausgelöst von einem Mann mit seinen zwei Akustikgitarren. Huschende, rasende, klopfende, kratzende, zupfende Finger, streichelnde Hände über insgesamt 24 Saiten an zwei Akustikkörpern, über Tonabnehmer leicht verstärkt. Hände tanzen entlang der zwei Hälse an einem Korpus, einer mit zwölf Saiten bespannt und einer mit sechs und breiten einen Klangteppich vor den Zuhörerinnen und Zuhörern aus, in dem jeder einzelne Faden und die unterschiedlichen Fasern sichtbar, fühlbar, spürbar werden: Sisal, Wolle, Seide, kratzig rau, weich und geschmeidig, edel und unberührbar, fest im Tritt. Und manchmal auch zertreten, zerschunden, unansehnlich und aussortiert.
Zu Gast in der Christuskirche am Roden in Iserlohn ist Claus Boesser-Ferrari, ein weltweit musizierender, stilprägender deutscher Gitarrist, Komponist und Dozent mit internationaler Konzert- und Tourgeschichte. Mal ist seine klassische Gitarre zu hören, auf der er dann ein dynamisches Wechselspiel bis zu komplexen Hammer-on und Zupfmustern der Rock- und Popmusik ausbaut, bei denen teilweise nicht einmal mehr klar ist, wo ein Riff aufhört und der Rhythmus-Part anfängt und in Jazz-Elemente übergeht und einzelne Töne den Raum innehalten lassen. Mann, Gitarre, Klang, alles wird eins. Harte Schnitte und derbe Sprünge im Geräuschpegel unterstreichen seine Botschaft.
Zum Gedenken an die Pogrome vom 9. November 1938
Fast mag man den Anlass und Hintergrund dieses Konzertes vergessen, würden die vielfältigen virtuos vorgetragenen und in sich verschmelzenden Musikstile und Richtungen, nicht immer wieder von einem Thema durchzogen, das sich als Leitmotiv den Zuhörenden ins Gedächtnis schreibt.
„Der Rebbe tanzt“. Was im Titel dieser jiddischen Komposition aus dem Warschauer Getto, dessen Komponist unbekannt ist, noch einen fröhlichen Anklang hat, führt innerhalb weniger Töne in die Schrecken der Vergangenheit, an die an diesem Abend mahnend erinnert werden soll. Es ist wie eine Reise in den Osten, mit orientalischen Anklängen, die trotz aller scheinbaren Heiterkeit zum Nachdenken und Bedenken einlädt und die geplanten und bejubelten Pogrome, nicht nur am 9. Nov. 1938, mit ihren Synagogenbränden und Geschäftsstürmungen in Erinnerung ruft. Organisierte Schlägertruppen und ein entfesselter, plündernder Mopp ziehen durch die Straßen. Durchbrochen wird sein „Tanz“ von den mal brüllenden, rasend rhythmischen und wimmernden Bearbeitungen einiger Stücke von Bob Dylan, Pink Floyd oder Jimmi Hendrix. Mit seinen außerordentlichen, extravaganten, musikalischen Inszenierungen steht besonders Jim Hendrix für den Bruch mit überkommenen Traditionen und Normen der Nachkriegsgesellschaft. Deren Vertreterinnen und Vertreter und Vollzieher der Nazidiktatur waren für einige Konzertbesucherinnen und Besucher in ihrer Jugend in Schule und Ämtern und ggf. in den eigenen Familien und dem nachbarschaftlichen Umfeld noch gegenwärtig und erlebbar. Das zur Sprache bringen war schwer, wollte man nicht als Nestbeschmutzer gebrandmarkt werden.
Bewusst machen und Zeichen setzen
Um so dringender sei, gerade auch in einer Zeit des Erstarkens des Faschismus und Rechtsradikalismus in Deutschland, das Erinnern, führte Pfarrerin Bettina Roth-Tyburski bei ihrer Begrüßung der Konzertbesucherinnen und Besucher aus. Seit ihrer Jugend ist sie mit dem Gitarristen Claus Boesser-Ferrari bekannt und hatte so die Chance ihn, der einige Tage zuvor noch in London und Tokio Auftritte hatte und einige Tage danach in New York spielt, nach Iserlohn in die Christuskirche am Roden einzuladen. Denn diese Kirche steht auch in einer tiefen Verbindung zu Widerstand und Überwindung. Sie wurde im Jahr 1937 eingeweiht, und ihre Gemeinde gehörte zu einer der ersten, die sich schon sehr früh gegen die gleichgeschalteten Deutschen Christen und zur Bekennenden Kirche stellte. „Ich bin froh in so einer Kirche arbeiten zu können und die Möglichkeit zu haben heute mit diesem Konzert ein Zeichen zu setzen“, sagte sie in ihrer Begrüßung.
Musik, die zu einem spricht
Die Tyrannei der Nazidiktatur war auch in den musikalischen Zitaten aus dem Lied: „Mein Vater wird gesucht“, von Hans Drach aufgenommen. „Mein Vater wird gesucht, er kommt nicht mehr nach Haus. … Sie hetzen ihn mit Hunden, … Es sagten die Genossen, SA hätt‘ ihn erschossen.“ Aufpeitschende Klänge erfüllen die Kirche, eine Hetzjagd ist vor dem geistigen Auge zu erleben, vorsichtige Töne lassen ein ängstliches Verkriechen erahnen. Eingestreute Eigenkompositionen verbunden mit Zitaten aus „Gott der Herr ist Hirte mir“ von Anton Dvorak, lassen der Hoffnung Raum und geben für Momente der Seele Ruhe. Ein Sehnen nach Zukunft kommt auf im Klang des Songs Oh Well von Fleetwood Mac, in dem es heißt: „Gott sagte: Halte dich an mich, und ich werde die Hand sein, die dich leitet“, sowie in den kleinen Kompositionen eines russischen, jüdischen Freundes, die er ihm wie Friedenstauben zukommen lässt. Ein Zeichen, dass das Leben weiter geht.
Und plötzlich ist Stille und es braucht einen Moment, bis der Applaus entbrennt. Man fragt sich wie eine ganze Welt aus Klang und Tönen von einem einzelnen Menschen, einem außergewöhnlichen Gitarrenvirtuosen und Solokünstler erzeugt werden kann, die einen für knapp zwei Stunden staunen, erzittern, erbeben, tief fühlen lässt, mitreißt, durchwühlt und erfüllt.
„Es geht mir vor allem um die Authentizität und die Wahrhaftigkeit in der Musik“, sagt Claus Boesser-Ferrari und das spürt man ihm ab. Die hier genannten Songs und Kompositionen, sind nur ein Ausschnitt aus der Fülle, der im Konzert zitierten und phrasierten Stücke, die in ihrer unglaublichen Dynamik und in ihrem zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext auch prägende Elemente seiner Biografie anklingen lassen. Da tat es gut, dass die Besucherinnen und Besucher nach dem Konzert noch die Möglichkeit hatten sich mit dem Künstler und untereinander auszutauschen.
Fotos Bernhard Laß
1 Claus Boesser-Ferrari
2 Claus Boesser-Ferrari mit seiner Crossover 12 / 6-saitigen Doppelhals-Gitarre
3 Claus Boesser-Ferrari mit seiner 6-saitigen Crossover Gitarre
4 Pfrn. Bettina Roth-Tyburski bei der Begrüßung
Claus Boesser-Ferrari
Claus Boesser-Ferrari mit seiner Crossover 12 / 6-saitigen Doppelhals-Gitarre
Claus Boesser-Ferrari mit seiner 6-saitigen Crossover Gitarre
Pfrn. Bettina Roth-Tyburski bei der Begrüßung